Das Schreiben umfasst neun Seiten, sein Inhalt ist hochexplosiv: Bei der 4. Zivilkammer des Frankfurter Landgerichts liegt eine Klageschrift, mit der ein ranghoher Kriminalbeamter ein Schmerzensgeld in fünfstelliger Höhe vom Land Hessen verlangt. Der Prozess, der am Mittwoch beginnt, birgt Brisanz: Auf dem Prüfstand steht auch, ob hessische Polizeibeamte mit Hilfe eines behördeninternen Spitzelwesens, mit Denunziation und fingierten Beschuldigungen ins Abseits gedrängt werden.
Die Männer kamen stets nach Feierabend. Oder in der Mittagspause. Oder während der Urlaubszeit. Ungehindert gelangten sie im dritten Stock des Frankfurter Polizeipräsidiums in das schmucklose Büro des Leiters der hochsensiblen Abteilung „Personenfahndung“. Sie durchsuchten die Unterlagen auf seinem Schreibtisch, öffneten seine Schränke und Schubladen, sammelten dienstliche und private Papiere ein, kopierten sie und legten die Originale fein säuberlich zurück. Die Kopien hefteten sie ordentlich in einem Ordner ab.
Monatelang sammelten die Kriminalbeamten Stefan B. und Joachim M. – zeitweise angeblich auch mit Unterstützung des Kollegen D. – Material gegen ihren Chef. Seine Dienstpläne, seine Fahrtenbücher, seine Spesenabrechnungen, seine Aufzeichnungen – was immer sie fanden, kopierten sie. Dass ihnen bei ihrer Schnüffelei geheime Unterlagen, zum Beispiel streng vertrauliche Daten von V-Leuten, unter die Finger kamen, das kann nicht ausgeschlossen werden, das ist aber bisher noch nicht hinterfragt worden.
Im Frühjahr 2006 übergaben die Beamten ihren Ordner an die Vizepräsidentin im Frankfurter Polizeipräsidium, Sabine Thurau. Die soll sich gegenüber den amtsinternen Spitzeln äußerst angetan gezeigt haben ob des erfolgreichen Schnüffeleinsatzes, versprach Vertraulichkeit und allerschnellstes Handeln – Motto: Nun wird aufgeräumt!
Und tatsächlich: Schon wenig später, am 17. März 2006, wurde der hochbrisante Aktenordner an die Staatsanwaltschaft geschickt. Die leitete umgehend ein Ermittlungsverfahren ein: Aktenzeichen: 3460 Js 210657/06 – Beschuldigter: Kriminalhauptkommissar Jochen Z., geb. 24. Dezember 1956, wohnhaft in Gelnhausen, verheiratet, ein Kind.
So begann, vor nunmehr vier Jahren, eine der umstrittensten und bis heute weitgehend unter Verschluss gehaltenen Aktionen der Frankfurter Polizeiführung gegen einen ihrer Top-Beamten. Polizeipräsident Achim Thiel, der allgemein als spröde und wortkarg gilt, war damals mit seinem Urteil ganz schnell dabei: Gegenüber der „Bild-Zeitung“ tönte er, die angeblichen Dienstvergehen seien „gelinde gesagt eine Sauerei“.
Thiels Stellvertreterin Thurau muss zu diesem Zeitpunkt bereits jegliche Zurückhaltung abgelegt haben: Öffentlich erklärte sie laut Zeugenaussagen, Jochen Z. sei in kriminelle Machenschaften verstrickt, weswegen er nie wieder in den Polizeidienst zurückkehren werde – dafür werde sie persönlich sorgen.
Das Problem, das sich heute auftut: Der Kriminalbeamte Jochen Z., der von Frankfurts Polizeiführung derart vorschnell als kriminell abgestempelt wurde, der daraufhin jahrelang vom Dienst suspendiert war und in diesen Jahren mit deutlich reduziertem Gehalt seine Familie ernähren musste – diesem Mann ist strafrechtlich nichts vorzuwerfen. Die Vorwürfe gegen ihn, das steht inzwischen fest, hatten Kollegen konstruiert, wohl ein Racheakt, weil sie sich bei Beförderungen übergangen fühlten. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Ermittlungen gegen Jochen Z. eingestellt, der Mann hat als unschuldig zu gelten, keinerlei Vorwürfe sind ihm zu machen.
Und so ist aus dem Fall Jochen Z. heute der Fall Thiel & Thurau geworden: Zwei Polizeiführer, die einen Beamten im gehobenen Dienst bespitzeln ließen, die ihn öffentlich diskreditierten und denunzierten – und die bis heute nicht den kleinsten Schritt unternahmen, dem Mann Wiedergutmachung zuteil werden zu lassen.
Es gibt Erklärungen, die aber kaum als Entschuldigungen herreichen werden. Frankfurts Polizeiführung war damals aufgewühlt durch diverse Skandale: Verkehrspolizisten hatten Autofahrer abgezockt und das Geld in die eigene Tasche gesteckt; Personenschützer waren durch rechtsradikale Umtriebe aufgefallen; ein Sex-Verbrecher war im Bett einer Polizistin entdeckt worden; ein Beamter hatte eine Razzia verraten…
Polizeipräsident Achim Thiel gab sich damals, als diese Skandale aufflogen, betont kämpferisch: „Wenn wir Fehlverhalten unserer Beamten entdecken“, sagte er in einem Interview, „leiten wir Disziplinar- beziehungsweise Ermittlungsverfahren ein – natürlich ohne Rücksicht darauf, um wen es sich handelt.“
War mit „ohne Rücksicht“ auch rücksichtslos gemeint?
Es war am 29. März 2006, Jochen Z. hatte dienstfrei, sein Vater hatte gerade einen Schlaganfall erlitten, rang mit dem Tod. Gegen Mittag klingeln vier Männer in Gelnhausen an: Der Leiter der Polizeiverwaltung, zwei Beamte des Kriminaldauerdienstes und der Polizeipsychologe stehen vor der Haustür. „Sie müssen jetzt ganz stark sein“, sagt der Psychologe zu Jochen Z. „Sie müssen mitkommen, es geht um Ihre Suspendierung.“
Die Beamten, so steht’s im Protokoll, nehmen ihrem Kollegen seine SigSauer-Dienstwaffe ab, auch seinen grünen Dienstausweis, dann drängen sie sich zu fünft in ein Auto und fahren nach Frankfurt.
Hier wird Jochen Z. „ein Tribunal gemacht“, wie einer der Anwesenden später erzählt: Im Büro der Vizepräsidentin sitzen der Polizeipräsident, seine Stellvertreterin, verschiedene Dienststellenleiter und der Psychologe um den Besprechungstisch. Hier erfährt Jochen Z. erstmals, was gegen ihn vorgebracht wird: Er sei mit seinem Dienstausweis aus rein privatem Interesse zu Eintracht-Spielen (damals 2. Liga) gegangen, er sei mit dem Dienstwagen nach Hause gefahren, er habe bei Auslandseinsätzen Mietwagen für Privatausflüge genutzt, aber dienstlich abgerechnet, er habe Überstunden falsch aufgeschrieben…
Jochen Z., so erinnert sich heute ein Teilnehmer des „Tribunals“, beteuert mehrmals, er habe ein reines Gewissen, er habe nichts falsch gemacht, er könne jeden Vorwurf entkräften. Das sagt hier doch jeder, soll Frau Thurau schnippisch entgegnet haben. Und das Polizei-“Gericht“ entscheidet schließlich, Jochen Z. vom Dienst zu suspendieren, mit sofortiger Wirkung. Zudem wird ihm Hausverbot erteilt.
Zu dieser Stunde ist der Fall Jochen Z. längst im ganzen Polizeipräsidium bekannt: Sabine Thurau war am Vormittag in den dritten Stock gegangen, in die Büros der Personenfahnder. Dort soll sie den versammelten Mitarbeitern verkündet haben, dass Jochen Z. in kriminelle Machenschaften verwickelt und deshalb mit sofortiger Wirkung suspendiert sei. Sie sagte auch, dass keiner mehr mit ihm reden dürfe. Und dann soll die Polizeivizepräsidentin auch gesagt haben, sie werde persönlich dafür sorgen, dass Jochen Z. nie wieder zur Polizei zurückkehren werde.
Müssen wir das betonen: Kriminelle Machenschaften bei der Polizei sind nicht zu dulden, niemals! Aber: Auch ein Polizeibeamter hat Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren.
So gilt für jeden Beschuldigten das Recht auf Anhörung und Gewährung rechtlichen Gehörs. Das wird juristisch so versierten Polizeiführern wie Achim Thiel und Sabine Thurau bestens bekannt sein, und wenn sie im Fall Jochen Z. dessen Rechtsanspruch vorsätzlich nicht beachtet haben, ist für Juristen durchaus der Tatbestand einer erheblichen Verletzung der Amtspflichten gegeben. Von Vorverurteilung ist heute zudem die Rede, von Rufschädigung, von Persönlichkeitsverletzung. Rechtsstaatlich sieht anders aus. Fair sowieso.
Im Herbst 2007 – nach eineinhalb Jahren – legte die Abteilung Innere Revision des Wiesbadener Landeskriminalamtes einen „Vorläufigen Schlussvermerk“ zum Fall Jochen Z. vor. Vorwurf um Vorwurf wird darin penibel aufgelistet – und entkräftet. „Keine Auffälligkeiten“, „keine Unregelmäßigkeiten“, „keine Verstöße dienstlicher Hinsicht“ – extra fett gedruckt steht’s da, eine überzeugendere Unschuldserklärung gibt’s nicht.
Und was tut Frankfurts Polizeiführung? Nichts. Gar nichts. Sie reagiert auf den Bericht einfach nicht.
Mitte 2008 will die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Jochen Z. einstellen – „die Vorwürfe sind strafrechtlich völlig irrelevant“, soll der ermittelnde Staatsanwalt zu Frankfurts Polizeiführung gesagt haben, um sie zum Einlenken zu bewegen. Doch die denkt nicht daran, im Gegenteil:
Am 20. Juni 2008 schreibt Polizeipräsident Achim Thiel einen dreiseitigen Brief an den Staatsanwaltschaft – Tenor: Man möchte das Verfahren doch bittschön weiter durchziehen. Thiels abenteuerliche Begründung: Seine Behörde habe „auch im Zusammenhang mit den Vorwürfen gegen Herr Z. immer wieder im Mittelpunkt der öffentlichen Berichterstattung und der damit einhergehenden Kritik“ gestanden. Das habe „eine äußerst negative Darstellung der Polizei zur Folge“, weshalb er eine Verfahrenseinstellung „nicht für sachdienlich (halte), da sie dieses negative Bild einer öffentlichen Einrichtung eher noch verstärken würde“.
Im Klartext: Der Frankfurter Polizeipräsident wünscht, dass einer seiner Mitarbeiter juristisch verfolgt wird – auch ohne triftigen Grund, nur damit seine Behörde in der Öffentlichkeit besser dasteht.
Am Ende aber nutzt alles nichts, der Fall ist ausermittelt – und geklärt: An den Vorwürfen ist nichts dran. Die Staatsanwaltschaft schließt die Akte. Im Juni 2009 wird das Verfahren gegen Jochen Z. eingestellt. Nach drei Jahren.
Jochen Z., der früher als Rauschgiftfahnder erfolgreich war, dann als Chef der Personenfahnder, international operierend, arbeitet wieder. Nicht im Polizeipräsidium Frankfurt, sondern bei der Polizei in Offenbach. Als Sachbearbeiter. Sein Anwalt sagt auf Nachfrage in nüchternem Juristendeutsch: „Die Behördenleitung hat es zugelassen, dass der Beamte sowohl in Kollegenkreisen als auch in den Medien öffentlich demontiert wurde. Er ist bis heute nicht rehabilitiert worden.“ Deshalb die Klage: 30.000 Euro soll das Land dem Beamten als Schmerzensgeld zahlen.
Der Anwalt sagt auch: „Mein Mandant wird nach wie vor in herabwürdigender Weise als Sachbearbeiter für einfache dienstliche Aufgaben herabgestuft.“ Auch das gelte es zu überprüfen.
Und dann noch dies, ein kleiner verbaler Seitenhieb nur, der jedoch verrät, dass die entwürdigende Behandlung eines gestandenen Kripobeamten selbst von einem abgeklärten Juristen nicht mehr nur emotionslos hingenommen werden kann: „Die Unschuldsvermutung gilt übrigens auch für Polizeibeamte. Das sollte ein Dienstherr beachten.“
Der Dienstherr, Frankfurts Polizeipräsident Achim Thiel, der die Vorwürfe so schnell ungeprüft aufgenommen und öffentlich von „Sauerei“ gesprochen hatte, gibt sich jetzt plötzlich äußerst zurückhaltend: Kein Kommentar! Er halte es „für nicht geboten, zumal es auch seine Behörde betrifft, sich in diesem Stadium des Verfahrens zu äußern“, lässt er über seinen Sprecher Jürgen Linker mitteilen.
Auch im Wiesbadener Innenministerium, das sich als übergeordnete Behörde mit den Vorgängen auseinandersetzen müsste, will man nichts sagen. Sprecher Michael Bußer: „Erstens ist es eine Angelegenheit des Polizeipräsidiums Frankfurt, zweitens handelt es sich um ein laufendes Verfahren.“
Sabine Thurau, die damalige Frankfurter Vizepräsidentin, ist unlängst zur Präsidentin des Landeskriminalamtes in Wiesbaden aufgestiegen. Eine Stellungnahme zum Fall Jochen Z.? Auf keinen Fall! Es handle sich „um ein noch aktuelles Verfahren, das überdies nicht das Hessische Landeskriminalamt betrifft“, lässt Frau Thurau über ihren Sprecher Markus Bönisch ausrichten. „Aus diesem Grunde erfolgt seitens des LKA keine Stellungnahme zu dem Sachverhalt. Dies schließt Fr. Thurau ein.“
Das Kartell des Schweigens – Mittwoch ist es wohl vorbei. Meinrad Wösthoff, Vorsitzender Richter am Landgericht Frankfurt, teilte mit: „Termin zur mündlichen Verhandlung vor der 4. Zivilkammer ist bestimmt auf Mittwoch, den 23.06.2010, 11.30 Uhr, Saal 114 im Gebäude B.“ Das Verfahren führt jetzt das Aktenzeichen 2-04 O 584/09. Die Sitzung ist öffentlich.
Erschienen in der FNP am 21.06.2010